Herausforderung Neurogeriatrie
Der wachsende Anteil an Betagten und Hochbetagten in unserer Gesellschaft führt zu einer dramatischen Zunahme altersassoziierter Erkrankungen, insbesondere neurologischer Krankheitsbilder, die häufiger im höheren Lebensalter auftreten.
Jede zweite Erkrankung im Alter, die zu bleibender Behinderung führt, stammt aus dem neurologisch/psychiatrischen Formenkreis. Für deren adäquate Behandlung ist neben der speziellen medizinisch-fachlichen Ausbildung vor allem ein interdisziplinäres Denken über Fachgrenzen hinweg notwendig.
Sowohl neurologisches und psychiatrisches Fachwissen als auch profunde geriatrische Kenntnisse sind in Anbetracht der Vielschichtigkeit der Probleme von großer Bedeutung.
Neurogeriatrische Patienten stellen heute keine Randgruppe mehr dar, sondern stehen immer deutlicher im Mittelpunkt ärztlichen Handelns.
Behandelte Krankheitsbilder
Als häufigste neurogeriatrischen Krankheitsbilder sind zu nennen:
- Zerebrovaskuläre Syndrome (Schlaganfall, subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie) und deren Frührehabilitation
- Demenzen und andere kognitive Störungen einschließlich Morbus Alzheimer, vaskulären Demenzformen, Prodromalstadien von Demenzen (leichte kognitive Störung)
- Hypokinetisch-rigide Syndrome einschließlich des Spektrums der Parkinsonsyndrome, Normaldruckhydrocephalus, vaskulär bedingte Gangstörungen
- Stürze, Sturzursachen und Mobilitätsstörungen einschließlich der nicht-kardialen Bewusstseinsstörungen, viele Formen von Schwindel
- Verwirrtheitszustände
- Anfälle und Bewusstseinsstörungen einschließlich Altersepilepsien, konvulsive Synkopen
- Schlafstörungen wie Insomnien, Hypo-, Parasomnien und Restless-Legs-Syndrome
- Neurogene Miktionsstörungen
- Medikationsprobleme einschließlich der Wirkung vieler Medikamente auf ZNS und PNS und der Wirkung vieler Psychopharmaka
- rnährungsstörungen einschließlich neurogener Dysphagien (Schluckstörungen) bei vielen ZNS-Erkrankungen, B-Hypovitaminosen, Fehl- und Mangelernährung bei Demenz
- Folgewirkungen internistischer Erkrankungen auf das Gehirn, z. B. Anämie, Hypothyreose, Diabetes, Hypertonie, Hypovitaminosen, Infekte, Vorhofflimmern, Arteriosklerose
- Ethische und palliativmedizinische Fragen bei Alterserkrankungen des Gehirns einschließlich Schlaganfall und Demenz
- Fragen der Rehabilitation und Versorgung bei den genannten Krankheitsbildern
Neurogeriatrische Diagnostik
Die meisten neurologischen Erkrankungen im höheren Lebensalter zeigen Besonderheiten, die einen speziellen Wissensstand erfordern, die Diagnostik ist vielschichtiger, die Krankheitssymptome können oft von typischen Mustern abweichen. Spezielle Situationen ergeben sich auch im Rahmen der pharmakologischen Behandlung infolge besonderer Interaktionen und altersabhängiger Nebenwirkungen.
Zur Diagnostik altersneurologischer Erkrankungen werden vorgehalten:
- neurologische und psychiatrische Diagnostik
- Doppler- und Duplex-Sonographie der hirnversorgenden Gefäße
- Orthostasetests (Prüfung der Kreislaufregulation)
- Schluckuntersuchung (funktionell und endoskopisch)
- EEG (Messung der Hirnströme)
- Neurographie (Messung der Nervenleitgeschwindigkeit)
- Myographie (Messung der elektrischen Muskelaktivität)
- Evozierte Potentiale (Überprüfung der Funktionstüchtigkeit von Seh-, Hör und Gefühlsbahnen)
- Magnetstimulation
- Umfassende neuropsychologische Diagnostik incl. verkehrsmedizinische Beratung
- Lumbalpunktion (Untersuchung des „Nervenwassers")
- CT, MRT sowie konventionelles Röntgen in Zusammenarbeit mit der Gemeinschaftspraxis für Radiologie und Nuklearmedizin Köln-Kalk
Neurogeriatrie und Rehabilitation
Die Neurogeriatrie ist inhaltlich nahezu immer mit dem Prozess der neurologischen Rehabilitation verknüpft und bildet mit ihr ein integrales System. So bedient sie sich in großen Bereichen der Methodik der Neurorehabilitation, unterscheidet sich von dieser jedoch durch das im Regelfall höhere Alter der Patienten und die alters- und multimorbiditätsbedingten mehrfachen Einschränkungen.
Chancen durch Neuroplastizität
Neuroplastizität bedeutet die innere Fähigkeit der Nervenzellen, gegen biochemische und strukturelle Änderungen zu kämpfen, die adaptative Fähigkeit der Nervenzellen, auf Schädigungen und Krankheiten kompensatorisch zu reagieren, sowie die Fähigkeit der Nervenzellen, ihre Aktivität an sich verändernde Umgebungen und Prozesse der Informationsspeicherung anzupassen.
Neuroplastizität bleibt bis ins hohe Alter erhalten. Daraus ergibt sich einerseits ein Argument für einen möglichst frühzeitigen Rehabilitationsbeginn, andererseits auch die Verpflichtung, selbst bei betagten Personen potenziell rehabilitierbare Restfunktionen und sensomotorische wie auch kognitive Kompensationsfähigkeiten zu erkennen und darauf aufbauend entsprechende restitutive Rehabilitationsverfahren einzusetzen.
Neuroplastische Prozesse werden durch die Methoden des aktiven Trainings (Bewegung und über die Sinne) angeregt. Diese Tatsache lässt sich therapeutisch und rehabilitativ nutzen, um eine geschädigte Funktion wieder aufzubauen. Damit geschädigte Hirnareale im Rahmen der Möglichkeiten wiederhergestellt werden können, müssen dem Gehirn über die Peripherie geeignete Reize geboten werden.
(Früh)Rehabilitation bei Demenz
Auch geriatrische Patienten mit demenziellen Störungen verbessern sich häufig durch eine Rehabilitation, insbesondere im Hinblick auf ihre Mobilität und Gangsicherheit sowie in der Selbstständigkeit im Alltag. Vor allem bei Patienten mit leichter und mittelschwerer Ausprägung der Demenz lassen sich fast gleich gute Rehabilitationsergebnisse erzielen wie bei nicht-demenzkranken Patienten.
Aber selbst bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz können deutliche funktionelle Verbesserungen erzielt werden. Dies haben Studien der letzten Jahre eindeutig belegt. Nur jeder fünfte Patient mit Demenz musste am Ende der Rehabilitation neu in eine Pflegeeinrichtung übersiedeln, die meisten konnten wieder nach Hause in einen privaten Haushalt entlassen werden.
Deshalb sollte gerade auch bei demenzkranken Patienten die Notwendigkeit einer geriatrischen Rehabilitationsmaßnahme überprüft werden. Fachärztliche geriatrische Kompetenz sollte aus diesem Grund in den Akutkrankenhäusern sichergestellt sein.